Sonntag, 11. Januar 2015

Was heißt: Ein religiöses Gefühl verletzen?

Was ist ein religiöses Gefühl?


Als religiöse Gefühle bezeichnet man z.B. die Erfahrung der Liebe Gottes, die Freude über die Auferstehung, die Erlösung von Schuld oder der Weite der Schöpfung, also innere Befreiungserfahrungen, die mit religiösen Inhalten in Zusammenhang gebracht werden. Es können auch Schuld- und Schamgefühle, Ängste vor einem rachsüchtigen oder strafenden Gott usw. zu den religiösen Gefühlen gerechnet werden, also das, was Erwin Ringel als "ekklesiogene Neurosen" beschrieben hat. Genauer betrachtet, handelt es sich also bei religiösen Gefühlen um verschiedene Wachstums- oder Schutzgefühle, die mit religiösen Inhalten verknüpft sind. Erst durch das Hinzufügen des kognitiven Gehalts wird aus einem x-beliebigen Gefühl ein religiöses.

Was heißt: Ein Gefühl verletzen?


Wir verletzen jemanden, also eine Person, wenn wir unachtsam sind, und nicht ein Gefühl. Wir bewirken durch unser Verhalten ein Gefühl des Verletztseins bei der anderen Person. Bei der "Verletzung religiöser Gefühle" geht es eigentlich darum, dass sich eine Person verletzt fühlt, wenn wir z.B. Gott lästern. Die Person fühlt sich in ihrem Glauben nicht geachtet. Wir können das klarstellen, indem wir zwischen dem Glauben der Person, den wir achten sollten, und dem Gegenstand des Glaubens unterscheiden, zu dem wir unsere eigene Einstellung und Meinung haben dürfen. Wir müssen unsere Kritik nicht in einer Sprache äußern, die die andere Person vor den Kopf stößt (denn dann ginge es uns eigentlich darum, die andere Person zu lästern), sondern können sagen, dass das unsere Meinung und Sichtweise ist, auf die wir auch ein Recht haben, so wie die andere Person auch auf ihre.

Öffentlich geäußerte Kritik oder Lästerung eines religiösen Inhalts ist Teil der Meinungsfreiheit. Wer sich davon verletzt fühlt, sollte dem Autor der Kritik nicht böse sein, sondern sich klar machen, dass das dem eigenen Glauben nichts anhaben kann und noch weniger dem Objekt der Schmähung. Wer den Autor der gegenteiligen Meinung persönlich angreift, statt dessen Meinung die eigene entgegenzustellen, bringt die Auseinandersetzung auf eine persönliche Ebene, wo sie nicht hingehört. 

Damit wird ein unnötiger Streit entfesselt, der darauf hinweist, dass eine Identifikation ins Spiel gekommen ist: Die Person, die sich verletzt fühlt, hat sich mit dem religiösen Inhalt identifiziert, indem sie z.B. denkt: "Ich bin der Gott, der geschmäht wird, also werde ich geschmäht", oder gelinder: "Ich muss den Gott verteidigen, der geschmäht wird", als würde dieser Gott in Gefahr sein, obwohl eigentlich nur mein Glaube an ihn in Gefahr gerät. Ich verteidige durch den Angriff auf den Angreifer meines Glaubens diesen meinen Glauben vor einer Verunsicherung. 

Sobald ich in dieser Weise reagiere, bedeutet das, dass mein Glaube den Test nicht bestanden hat, also zu schwach ist, um dem kritischen Angriff standzuhalten. So muss ich zum Gegenangriff übergehen, bei dem es dann gar nicht mehr um die Kritik geht, sondern darum, dass mein Glaube nicht in Frage gestellt werden darf, weil er zu fragil ist. Ein starker Glaube hält jedem Angriff stand, schließlich kann niemandem selbst mit ärgster Gewalt der Glaube weggenommen werden.

Wenn für das staatlich garantierte Recht auf Schutz von religiösen Gefühlen argumentiert wird, wie z.B. in einem Artikel in der WELT, werden leicht die Ebenen vermischt. Es wird dabei gerne so argumentiert: Der Staat schützt ja Gefühle, z.B. durch die Strafandrohung auf Beleidigung, Verleumdung, üble Nachrede usw. Wenn ich jemanden einen Trottel schimpfe, kann mich die beschimpfte Person auf Ehrenbeleidigung klagen. Damit will der Gesetzgeber verhindern, dass Menschen verbal übereinander herfallen. Weiters wird gesagt, dass der Staat auch Personen vor sexuellem Missbrauch schützt, wo es auch um verletzte Gefühle ginge. Also sollte der Staat auch seine Bürger vor der Verletzung ihrer religiösen Gefühle schützen.

Zunächst besteht die Ungereimtheit der Argumentation in der Verwechslung von Person und Gefühl: Verletzbar und deshalb vom Staat schützenswert ist die Person und ihre Integrität und nicht ein Gefühl. Verletzungen dieser Integrität können Gefühle auslösen. Im diskutierten Fall geht es darum, dass sich jemand verletzt fühlt, weil seine religiöse Anschauung nicht ernst genommen oder beleidigt wird, und diese Anschauung mit der eigenen Integrität verbunden ist.

Die Vermischung der Ebenen besteht darin, dass es bei den Fällen von Ehrenbeleidigung bis Verleumdung um die persönliche Integrität und öffentliche Stellung eines Menschen geht. Wird ein Geschäftsmann zu Unrecht als Betrüger beschimpft, schadet ihm das als Person und in seinem Beruf. Dagegen muss er sich zur Wehr setzen können, notfalls mit Unterstützung des Staates. Beschimpft jemand eine religiöse Instanz, z.B. den heiligen Josef oder den Erzengel Gabriel, so sind das keine Personen im rechtlichen Sinn; wenn es solche wären, könnten sie natürlich die Ehrenbeleidigung einklagen. Betroffen fühlen sich aber Personen, die diese Instanzen verehren und an sie glauben. Angegriffen wird jedoch diese Verehrung und dieser Glaube und nicht die Person, die verehrt und glaubt, oder ihre Integrität. 

Völlig abwegig erscheint in diesem Zusammenhang das Beispiel vom sexuellen Missbrauch, bei dem ja massiv die Integrität der Person verletzt wird, und nicht irgendwelche Gefühle. Diese entstehen unweigerlich und tiefgreifend durch den Missbrauch. Nirgendwo in einem Strafgesetzbuch steht, dass Missbrauch deshalb unter Strafe gestellt ist, weil dabei Gefühle verletzt werden. Dann wäre Missbrauch erlaubt, wenn dabei Gefühle keinen Schaden nähmen.

Anders liegt der Fall, wenn jemand eine andere Person direkt wegen ihres Glaubens abwertet: "Du bist ein Idiot, weil du an die unbefleckte Empfängnis Mariens glaubst." Da geht es um eine Beleidigung und Missachtung der Ehre, also der Integrität der Person. Der Beleidiger zielt primär auf die Person und nutzt dazu nur den Glaubensinhalt. Wenn aber jemand sagt, dass er die Unbeflecktheit der Empfängnis Mariens für einen Schwachsinn hält, kann sich zwar jemand persönlich betroffen fühlen, aber nur über den schon beschriebenen Vorgang der Identifizierung. 
Sobald also reale Personen zusammen mit Glaubensinhalten auf unsachliche Weise abgewertet werden, sollte auch staatliche Hilfe bei der Durchsetzung der eigenen Integrität gewährt werden, dafür sind die Kategorien wie Ehrenbeleidigung oder Rufschädigung usw. ausreichend, die ja für die verschiedensten Fälle gedacht sind. Eine eigene Kategorie im Sinn der religiösen Gefühle erscheint mir nicht nachvollziehbar. Schließlich gibt es auch keinen Schutz vor der Verletzung von philosophischen, ästhetischen, ethischen oder spirituellen Gefühlen. Diese Sonderstellung des Religiösen scheint noch als Relikt aus den Zeiten der innigen Verwobenheit von Staat und Religionsgemeinschaften übrig geblieben zu sein. 

Kritik, die von Hass und Abwertung geprägt ist, gleich an welcher Sache und an welchem Thema, stellt sich selber ins Eck, auch wenn sie gegen Glaubensinhalte gerichtet ist, und verdient nicht, ernst-, geschweigedenn persönlich genommen zu werden. Der emotionale Hintergrund, aus dem sich der Hass speist, ist das eigentlich beachtenswerte, und auf diesen sollte die Öffentlichkeit reagieren. Hasserfüllte Religionskritik muss nicht wegen der Verletzung religiöser Gefühle durch die Zivilgesellschaft und im Extremfall durch den Staat bekämpft werden, sondern wegen des zerstörerischen und gemeinschaftsschädigenden Impulses, der im Hass beinhaltet ist. Intoleranz, gleich von welcher Seite, muss in einer Gesellschaft, in der die Integrität der Menschen und ihrer Gefühle zentral sind, durch Toleranz ersetzt werden.

Was heißt: Beleidigung einer Religion?


Religionen sind keine Menschen, also können sie nicht beleidigt werden. Sie sind in manchen Ländern Rechtsperönlichkeiten, und können sich als solche im Rahmen der Rechtsordnung gegen ungerechtfertigte Angriffe zur Wehr setzen. Wer sich als Mitglied oder Anhänger einer Religion beleidigt fühlt, wenn die eigene Religion abfällig kritisiert wird, ist mit seiner Religion identifiziert. Das ist gerade im Sinn der eigenen Religion ein Sakrileg und religiöser Größenwahn, d.h. der religiöse verletzte Mensch versündigt sich gegen seine eigene Religion. Niemand darf sich mit seiner Religion identifizieren. 

Deshalb wurde z.B. Jesus von den Juden hingerichtet. Er hatte von sich behauptet, Gott zu sein, das steht nach jüdischer Auffassung keinem Menschen zu. Im muslimischen Bereich werden nicht einmal Bilder von Allah gefertigt, weil er so weit von menschlichen Vorstellungen entfernt ist. Wer sich mit Allah identifiziert, versündigt sich. Also jede religiöse Person, die sich beleidigt fühlt, weil ein Teil oder das Ganze des eigenen Glaubens beleidigt wurde, hat sich im Sinn dieser Religion schon versündigt. 

Wenn jemand alle Anhänger einer Religion, z.B. alle Juden schmäht, also antisemitische Parolen verbreitet, so kann sich ein einzelner Jude nur dann beleidigt fühlen, wenn er sich als Repräsentant aller Juden sieht. Das ist auch eine Anmaßung. Unter Verwendung von kommunikativer Vernunft wird sogleich klar, dass die Schmähung auf mangelnder kommunikativer Vernunft beruht. "Alle Juden" können nicht über eine von allen gleichermaßen geteilte Eigenschaft verfügen, die geschmäht werden könnte. Der Schmäher hat also eine unsinnige Aussage gemacht, von der sich niemand betroffen fühlen muss und die niemand ernst nehmen braucht. 

Ernstgenommen werden sollte die Intention, die hinter der Aussage steht, denn wenn kommunikativ unvernünftige Aussagen gemacht werden, sind aggressive und hasserfüllte Gefühle der Antrieb. Deshalb sollten die emotionalen Hintergründe von solchen Aussagen Beachtung und Widerspruch finden, weil aggressive Aussagen (hinter denen aggressive Gedanken stecken, hinter denen wiederum demütigende Erfahrungen) zu aggressiven Handlungen führen können.

Die "Verletzung religiöser Gefühle", die jemand beklagen mag, ist die Verletzung eines maßlos aufgeblähten Egos, das sich im ärgsten Fall mit einem Gott identifiziert hat, mit einer Religion oder mit allen Angehörigen einer Religion. Deshalb kommt es tragischerweise dazu, dass Menschen mit dieser Form des Größenwahns besonders "große Taten" setzen wollen, indem sie möglichst viele Menschen mit sich in den Tod reißen. In Wirklichkeit wollen sie nur ihr eigenes Ego in seiner Maßlosigkeit bestätigen. Bevor sie überhaupt noch zur Tat schreiten, versündigen sie sich schon an ihrer eigenen Religion.

Vgl. Meinungsfreiheit und religiöse Gefühle

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